Samstag, 9. Juni 2012

Willkür oder Notwendigkeit?

Eine bis dato unbescholtene Familie wird von der Polizei verprügelt, ein Augenarzt kommt nach einem Polizeieinsatz verletzt ins Krankenhaus. Wo ist die Grenze zwischen notwendiger polizeilicher Gewaltanwendung und Willkür? stern TV hat mit Betroffenen gesprochen.
stern tv, hallaschka, polizei, gewalt, polizeigewalt, willkür, verfahrenWurde verdächtigt, einen polizeilich gesuchten Mann zu verstecken: Sandra Brandmaier© stern TV
Familie Eder aus Rosenheim weiß bis heute nicht, warum sie Opfer eines Polizeieinsatzes wurde, an dessen Ende die ganze Familie mit Verletzungen ins Krankenhaus musste. Was war geschehen? Rückblick: Am 15. November 2010 stehen zwei Zivilbeamte vor der Haustür der Familie Eder. Sie suchen einen Mann, der einen gerichtlich angeordneten Termin nicht eingehalten hat. Tochter Sandra Brandmaier öffnet die Tür. Sie sagt den Polizisten, dass der Gesuchte ausgezogen sei.
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Verfahren gegen Polizisten Laut Amnesty International gab es alleine 2010 in Deutschland 3989 Verfahren gegen Polizeibeamte, die im Dienst gewaltsam gegen Bürger vorgegangen sind. Davon wurden 3377 Verfahren wieder eingestellt - das entspricht fast 90 Prozent.

Im Juli 2010 hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International einen Bericht veröffentlicht, in dem sie mutmaßlicher Misshandlung und unverhältnismäßige Gewaltanwendungen durch Polizeibeamte in Deutschland dokumentiert. Darin werden 15 Fälle ausführlich beschrieben. Den Bericht kann man auf der Seite von Amnesty International herunterladen.

Ex-Polizist wird zum Opfer

Weil sie die Männer nicht in die Wohnung lassen will, verdächtigen die Polizisten plötzlich die 36-Jährige. Sandra Brandmaier wird aus ihrer Wohnung gezerrt und auf den Fußboden geworfen. Ehemann Anton eilt zur Hilfe und wird mit einem Würgegriff gewaltsam zurückgedrängt. Die Schreie im Hausflur erschrecken auch die Eltern, Aloisia und Josef Eder, die zwei Etagen über ihrer Tochter wohnen. Als der ehemalige Polizist Josef Eder die Situation beruhigen will, wird er selbst verprügelt.
Am Ende halten zehn Polizisten die bis dato unbescholtene vierköpfige Familie in Schach. Aus Angst um ihre Eltern fleht Tochter Sandra Brandmaier die Beamten an, einen Rettungswagen zu rufen. "Das tat so unheimlich weh - ich dachte ich halte es nicht mehr aus", erinnert sich Sandra Brandmaier. Schließlich verständigen die Polizisten den Rettungsdienst. Familie Eder kommt verletzt ins Krankenhaus.
In der Stellungnahme der Polizei heißt es später: "Wir hatten es mit einer sehr aufgebracht wirkenden Frau zu tun". Und: "Sie fing an die Beamten zu schubsen. Mit weiteren Familienmitgliedern kam es ebenfalls zu Rangeleien."

Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttert

Josef Eder war selbst Polizist und hätte nie geglaubt, dass gerade er Opfer von Polizeigewalt werden könnte. Auch fast zwei Jahren nach dem Vorfall kann er kaum darüber sprechen: "Ich bin eigentlich immer fast ein Gerechtigkeitsfanatiker gewesen, aber das, was uns da passiert ist, das hat mein Urvertrauen in den Rechtsstaat total umgeworfen", sagt Eder.
Für Eders Anwalt Hartmut Wächtler ist dieser Einsatz mit nichts zu rechtfertigen: "Ein Mensch, der sogar der Polizei helfen will, findet sich gefesselt und verletzt am Boden. Das ist eine unvorstellbare Szenerie", findet der Jurist. Zudem hatte der Polizeieinsatz für die Familie auch noch ein juristisches Nachspiel: Vor dem Amtsgericht sollten sie sich wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verantworten. Nach sieben Verhandlungstagen wurde der Prozess eingestellt.

Rote Fußgängerampel überfahren

Ein Einzelfall ist der Fall der Familie nicht. Pro Jahr gibt es tausende Verfahren gegen Polizeibeamte - wegen Tötungsdelikten, Gewaltausübung, Zwang oder Amtsmissbrauch. Auch Siegfried Bauer hat das erlebt. Im März 2011 fährt er kurz vor Mitternacht mit dem Fahrrad nach Hause. Der Augenarzt ist angetrunken und überfährt eine rote Fußgängerampel. Ein Polizist fordert Bauer aus dem Streifenwagen heraus auf anzuhalten, doch Bauer fährt weiter. "Ich kam von der Ampel auf dem kombinierten Radweg und spürte dann, wie ich brutal gepackt wurde und mit maximaler Wucht mit meinem Rad auf den geteerten Boden geschmettert wurde", erinnert sich Siegfried Bauer.
Die Polizisten nehmen den Arzt mit auf die Polizeiwache. Im Polizeibericht heißt es später: "Bauer stürzte nach Widerstandshandlung zusammen mit Polizeihauptmeister R. zu Boden." Die Bilanz des Einsatzes: Siegfried Bauer hatte Platzwunden am Kopf, Abschürfungen im Gesicht, ausgerissene Haare und handtellergroße Hämatome.
Anwalt Hartmut Wächtler ist entsetzt von dem Verhalten des Polizisten: "Das war grob unverhältnismäßig. Ein Bürger wurde in Gefahr gebracht", sagt Wächtler. "Siegfried Bauer hat keinen Helm getragen, er hätte auch sterben können."

Polizisten unter Druck

Doch woher kommt das aggressive Verhalten der Polizisten? Sie stünden unter extremem Druck: Personalabbau, Überstunden, Extremsituationen - das sei Alltag und nicht jeder Beamte habe sich immer im Griff, erklärt ein Polizist, der unerkannt bleiben will, im Gespräch mit stern TV. "Die Hand sitzt locker", sagt der Mann. "Man ist ausgebrannt. Dann bekommt einer eine 'Gesundheitsschelle' - man muss es nur gut begründen können."
Wie die Statistik zeigt, haben Polizisten bei Vergehen selten etwas zu befürchten. Katharina Spieß von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat seit einigen Jahren den Verdacht, dass bei der Polizei nicht unabhängig ermittelt wird. "Wir haben auch Fälle gesehen, wo die Staatsanwaltschaft schon einen Tag nach den Ermittlungen gesagt hat: 'Wir haben keine Probleme bei der Polizei'", erklärt die Sicherheitsexpertin. "Und das, obwohl noch gar nicht ermittelt worden ist."
Für die Opfer von Polizeigewalt haben die Vorfälle schwere seelische Folgen: "Wir sind psychisch erheblich angeschlagen", sagt Josef Eder. Und auch sein Schwiegersohn Anton Brandmaier erklärt: "Ich würde mich nicht als Angsthasen bezeichnen, aber wenn irgendwo eine Polizeikontrolle ist, hat man schon ein komisches Gefühl. Man fragt sich halt: Kommst du aus dieser Kontrolle gesund an Körper und Geist raus?"



Quelle : http://www.stern.de/tv/sterntv/wenn-die-polizei-gewalt-anwendet-willkuer-oder-notwendigkeit-1836701.html

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